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migu

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Friday, June 18th 2004, 1:05pm

LIGNA-Radioballett am Kröpcke, Sa. 15 Uhr

Gestern ist mir in der Mensa ein Zettel in die Finger geraten, der zur "Anomalisierung des Alltagslebens" aufruft. Das und die dahinter stehende Idee eines Radioballetts klingen für mich interessant, weshalb ich es an euch weitergebe.

Der Text:

Quoted


Aufruf zur

ANOMALISIERUNG DES ALLTAGSLEBENS

Interventionistisches Radioballett in der Hannoveraner Innenstadt

“Wenn die Leute nicht mehr ihre Alltäglichkeit leben können, beginnt eine Revolution“ Henri Lefebvre (1968)

Alltag. Wenig scheint normaler als der Alltag deutscher Innenstädte. Passanten bummeln durch die Straßen, Konsumenten kaufen Waren und Leute betteln am Rand begleitet von Straßenmusikanten. Ein Schauspiel ohne Regisseur und Zuschauer vor der Kulisse bunter Schaufenster. In der Konsumzone sind alle Gesten und Bewegungen konform. Für die Normalität des Alltagslebens müssen weder Zwang noch Kontrolle ausgeübt werden. Im Strom der Menschen zu spazieren scheint normal. Vor einem Laden stehen zu bleiben scheint normal. Am Rand der Strasse zu sitzen scheint normal. Die Normalität beherrscht unsichtbar alle Gesten und Bewegungen.

Anomalie. Aufgrund dieser Normalität ist gemeinhin kein anderer Alltag, kein Alltag jenseits des Konsums vorstellbar. Wie aber entsteht die Normalität des Alltagslebens? In der zerstreuten Wiederholung immer gleicher Gesten, die sorgfältig eingeübt werden: Flanieren, am Schaufenster stehen blei-ben, den Laden betreten und mit einer Tragetasche wieder herauskommen, weiter flanieren. Jede vereinzelte Abweichung vom konformen Verhalten erscheint als bestätigende Ausnahme von der Regel: Alle anderen machen es ja richtig – und ist es daher nicht richtig, wie es ist? Was aber passiert, wenn die Abweichungen massenhaft werden? Wenn die zerstreute Wiederholung der immer gleichen Gesten durch eine andere, gleichzeitige Zerstreuung ersetzt wird? Was passiert, wenn die anomale Geste zur Regel und die normale Geste zur Ausnahme wird? Wenn eine neue, unkontrollierbare Situation das Alltagsleben in der Konsumzone anomalisiert?

Radioballett. Das Radiokollektiv LIGNA lädt in die Hannoveraner Innenstadt ein, um diese Frage praktisch zu beantworten. Auf Radio Flora, 106,5 MHz wird ein Programm ausgestrahlt, in dem Vorschläge für Übungen in abweichendem Verhalten gemacht werden. Die HörerInnen sind aufgerufen, dieses Programm mit transportablen Radios mit Kopfhörern in den Fußgängerzonen zu hören, die vom Kröpcke ausstrahlen. Die alltäglichste Geste kann anomal werden, wenn sie von vielen gleichzeitig, zerstreut und ohne sichtbare Absprache durchgeführt wird: Immer gehen alle vorwärts, mit einem Mal gehen viele rückwärts. Massenhafte anormale Gesten können die Normalität des Alltagslebens nachhaltig stören. Das Radioballett ermöglicht die Irritation des Alltagslebens mitten im Alltag. Je mehr HörerInnen zerstreut über die Konsumzone von der Norm abweichende Gesten durchführen, desto wirksamer wird die Anomalisierung des Alltagslebens sein.

Kommt zum LIGNA-Radioballett in die Fußgängerzonen rund um den Kröpcke! Zerstreut Euch! Weicht ab! Übt Euch in Normalität – Anomalisiert das Alltagsleben! Es gibt keine richtige Norm im Falschen!

Samstag, 19. Juni 2004, Radio Flora 106,5 MHz Die Sendung beginnt um 14 Uhr, das Radioballett um 15 Uhr. Radiogeräteverleih ab 14 Uhr im Schauspielhaus Hannover Im Rahmen von Theaterformen 2004 / REpublicACTION Nachfragen / Kommentare gerne unter: radioballett@gmx.de
[Quelle: http://www.nadir.org/nadir/aktuell/2004/06/07/24158.html]


über LIGNA:

Quoted


Die freie Radiogruppe LIGNA entwirft immer wieder experimentelle Situationen, die auf die Überschreitung üblicher Anwendungsbereiche der Radiotechnik bzw. auf die Reaktualisierung ihr innewohnender, aber vergessener oder ausgeblendeter Möglichkeiten abzielen.

Ein Beispiel dafür liefert das "Radioballett". Diese das erste Mal in Hamburg 2002 initiierte "Übung in unnötigem Aufenthalt" von Hunderten am Bahnhof versammelten Menschen wird durch die Anweisungen aus dem Kopfhörer von mitgebrachten Radios choreographiert.
Die Regie aus dem Äther ermöglicht somit nicht nur die Synchronisierung von -teilweise am Bahnhof verbotenen - Gesten wie bettelndes Handaufhalten, sondern auch eine Aneignung des öffentlichen Raumes.
Das O.K rekonstruiert eine solche Aktion als Installation. Während auf einem Bildschirm eine Dokumentation der Geschehnisse am Leipziger Bahnhof zu sehen ist und der Raum in die entsprechende Geräuschkulisse getaucht wird, kann man über einen hausinternen Sender und bereitgestellte Radiogeräte mittels Kopfhörer die dazugehörige Radiosendung hören.

LIGNA,
gegründet 1995,
besteht aus den Medientheoretikern und Radiokünstlern Ole Frahm, Michael Hüners und Torsten Michaelsen, die im Freien Sender Kombinat (FSK), einem nicht-kommerziellen, lokalen Radio in Hamburg arbeiten.
[Quelle: http://www.ok-centrum.at/ausstellungen/open_house/ligna.html]


Links:
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absynth

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2

Sunday, June 20th 2004, 11:49am

So ein Schwachsinn. Und das auch noch aus der öffentlichen Hand bezahlt. BU-ARGH.
I refuse to submit
To the god you say is kind
I know what's right, and it is time
It's time to fight, and free our minds
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migu

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3

Sunday, June 20th 2004, 1:04pm

Quoted

Original von absynth
So ein Schwachsinn. Und das auch noch aus der öffentlichen Hand bezahlt. BU-ARGH.


Du hast es also nicht verstanden.
tar: Anlegen eines leeren Archivs wird feige verweigert.

cowhen

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4

Sunday, June 20th 2004, 1:48pm

Quoted

Je mehr HörerInnen zerstreut über die Konsumzone von der Norm abweichende Gesten durchführen, desto wirksamer wird die Anomalisierung des Alltagslebens sein.
Das ist doch nur ein Werbetrick. 100 Leute rennen mit dem Radio im Ohr durch die Fußgängerzone....
"Gehen Sie zu Karstadt"
"OMMMMM... OMMMMM"
"Gehen Sie in die Sportabteilung, OMMMMM"
"Kaufen Sie Nike Schuhe"
"OMMMM, Brüder und Schwestern wir haben dem Alltag anormalisiert, wir haben jetzt alle Nike Schuhe OMMMM"
"Gehen Sie nun zu Conrad..."

lol :D
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migu

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5

Sunday, June 20th 2004, 2:18pm

Quoted

Original von cowhen

Quoted

Je mehr HörerInnen zerstreut über die Konsumzone von der Norm abweichende Gesten durchführen, desto wirksamer wird die Anomalisierung des Alltagslebens sein.
Das ist doch nur ein Werbetrick. 100 Leute rennen mit dem Radio im Ohr durch die Fußgängerzone....
"Gehen Sie zu Karstadt"
"OMMMMM... OMMMMM"
"Gehen Sie in die Sportabteilung, OMMMMM"
"Kaufen Sie Nike Schuhe"
"OMMMM, Brüder und Schwestern wir haben dem Alltag anormalisiert, wir haben jetzt alle Nike Schuhe OMMMM"
"Gehen Sie nun zu Conrad..."


Du beherrschst die Kunst des absichtlichen Missverstehens wirklich meisterlich.

Es ist vielmehr genau umgekehrt: Im Alltag zeigt der normale Konsument das von dir beschriebene Verhalten. Zumindest ist das von den Gewerbetreibenden in der Innenstadt so vorgesehen. Nichtkonsumenten oder Nichtkäufer sind in typischen Einkaufszonen immer unerwünschter.
Das LIGNA-Radioballett will mit seinen Aktionen den Blick für derartige Zusammenhänge schärfen. So habe ich es jedenfalls verstanden.

Als in der Mensa dieser Zettel ausgeteilt wurde, waren meine ersten Gedanken von Ablehnung gegen "solche Aktionisten" durchzogen. Dann packte mich aber die Neugierde und ich las - und verstand, was LIGNA usw. sagen wollen.

cowhen und absynth: Eure Reaktionen zeigen den Drang, euch fremde, evtl. unangenehme Meinungen durch Buhrufe und Schubladendenken zu disqualifizieren. Das ist eine m.E. bedenkliche Tendenz, da so eine (u.U. politische) Diskussion von vorne herein ausgeschlossen wird (werden soll?).

an cowhen im speziellen: anstatt etwas gleich lächerlich zu machen, das du (offenbar) nicht kennst, hättest du dich ernsthaft äußern können.

migu

PS: Disclaimer: Ich hatte mir nicht erhofft, es würde irgendjemand etwas zu diesem Thema beitragen.
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Thor_Walez

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6

Sunday, June 20th 2004, 2:55pm

Quoted

PS: Disclaimer: Ich hatte mir nicht erhofft, es würde irgendjemand etwas zu diesem Thema beitragen.


Na ja, wenn man etwas in einem Diskussionsforum postet, muss man auch damit rechnen, das Leute ihren Senf dazu geben und sich das ganze weiterentwickelt.

HoloMaD

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7

Sunday, June 20th 2004, 3:28pm

Gibts irgendwelche Tonbildaufnahmen von der Aktion? Würd gerne sehen wie Leute krampfhaft versuchen Dinge zu tun die ihnen ins Ohr geflüstert werden. Meiner Meinung nach kann man so aber keine Anormalität schaffen, da der Teilnehmer ja an dem Stück teilnimmt. Daher ist es in exakt dem Moment normal das er tut was er tut (bzw. was ihm gesagt wurde). So kann man als Teilnehmer gar nicht anormal werden. Da das ganze eine Veranstaltung von einer Gruppe ist, für die diese Art von Event normal ist, kann es auch hier wieder nicht anormal sein.
Für alle Nichtteilnehmer wird sich an ihrer Normalität nichts ändern, man ist heutzutage schon so stark überreizt, dass die meisten erst bei einem direkten Angriff auf ihre Welt übefhaupt eine Reaktion zeigen. Ein paar "komische Vögel" in der Innenstadt zählen da aber sicher nicht zu.
Daher fällt das hier für mich eher in die Kategorie netter Vesuch.
cu
Holo

PS: Anormal wäre es wenn sie mehr als eine Hand voll Leute für die Aktion gefunden hätten, Mitglieder der Gruppe davon ausgenommen.;)
We purposely trained him wrong, as a joke.

cowhen

Muuuh!

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8

Sunday, June 20th 2004, 4:09pm

Quoted

Original von migu
Du beherrschst die Kunst des absichtlichen Missverstehens wirklich meisterlich.
Danke :) Nennt man glaube ich auch Ironie/Sarkasmus.
Mein Post war zwar ironisch, jedoch die beschriebene Situtation so abwegig, dass man hier nicht von Mißverständnis sprechen kann. Die Werbung hat doch viel subtilere Mittel, um uns zu beeinflussen.

Quoted

Nichtkonsumenten oder Nichtkäufer sind in typischen Einkaufszonen immer unerwünschter.
Wer sind denn Nichtkonsumenten?

Quoted

Das LIGNA-Radioballett will mit seinen Aktionen den Blick für derartige Zusammenhänge schärfen. So habe ich es jedenfalls verstanden.
Diese Info kann ich aus den von dir geposteten Materialien nicht herauslesen, sry.

Quoted

cowhen und absynth: Eure Reaktionen zeigen den Drang, euch fremde, evtl. unangenehme Meinungen durch Buhrufe und Schubladendenken zu disqualifizieren. Das ist eine m.E. bedenkliche Tendenz, da so eine (u.U. politische) Diskussion von vorne herein ausgeschlossen wird (werden soll?).
Das sehe ich nicht so. Ich halte diese Aktion für eine Kunstform. Und Kunst ist bekanntermaßen Geschmakssache.
Außerdem ist das menschliche Verhalten beim Einkaufen doch nur pragmatisch. Wenn ich Einkaufen will, ist es sinnvoll, sich so zu verhalten, wie im Text beschrieben. Ich sehe nicht, was daran schlimm sein soll. Mir scheint es fast so, als ob hier der ewige Buhmann "Konsum" (etwas gegen Konsum sagen hört sich immer schick an) als politische(?) pseudo-Motivation für diese Aktion herhalten muss.
Warum sollten wir nicht under Verhalten beim Essen oder Autofahren ändern? Wär doch viel lustiger, wenn wir morgen alle mal die Vorfahrtsregeln ändern und links-vor-rechts spielen. Wär doch eine krasse anormalisierung des Alltags oder? ;)

Quoted

an cowhen im speziellen: anstatt etwas gleich lächerlich zu machen, das du (offenbar) nicht kennst, hättest du dich ernsthaft äußern können.

Ich sehe das nicht als lächerlich machen. Das ist halt meine Art, mich augenzwinkernd mit etwas auseinander zu setzen, dass ich für nicht sehr sinnvoll halte. Wenn die die Aktion offenbar nicht kenne, so ist das deine Schuld, migu, da ich dein Posting sehr gründlich gelesen habe. Das war meine Informationsgrundlage. Wenn dein Posting nicht ausreicht, damit ein interessierter Leser zumindest Ansatzweise im Bilde ist, brauchst du hier nicht Seitenweise zu posten.
Außerdem finde ich mein Posting so lächerlich nicht, die Aussage ist zugegebenermaßen etwas vage und versteckt ...aber wenn man gegen Gruppenzwang vorgehen will, in dem man von Außen wieder neuen Gruppenzwang schafft (und hier haben wir die Parallele zum Konsumzwang durch Werbung, worauf ich anspielte)


Quoted

PS: Disclaimer: Ich hatte mir nicht erhofft, es würde irgendjemand etwas zu diesem Thema beitragen.
Warum postet du dann?

PS: Meiner Ansicht nach MÜSSEN bei dieser Aktion die Meinungen weit auseinander gehen können. Ich hätte auch schreiben können "voll Scheisse", aber ich dachte ich bringe lieber einen ironischen/humorvollen Kommentar. Schade, dass es nicht so angekommen ist und die Diskussion jetzt wieder einen eher scharfen Ton annimmt.

PPS: Ich wäre an guten Argumenten FÜR die Aktion interessiert, denn mir erschließt sich der Sinn nicht! Bis jetzt habe ich nur gehört "ihr versteht es nicht und seid nicht offen genug" .
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migu

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9

Monday, June 21st 2004, 1:08am

Als erstes will ich erzählen, was ich Samstag erlebt habe.
Ich war so neugierig, am Samstag an diesem "Radioballett" teilzunehmen. So konnte ich am meisten davon mitbekommen. Um 14 Uhr begann auf radio flora die Sendung "DER WELLENBRECHER". Das Radioballett wurde u.a. mit Worten wie dem Lefebvre-Zitat Wenn die Leute nicht mehr ihre Alltäglichkeit leben können, beginnt eine Revolution" aus dem Text des Flugblatts (s.o.) angekündigt. Da ich kein Radio besitze, ging ich zum Schauspielhaus und lieh mir dort bei den Organisatoren gegen zehn Euro Pfand einen Empfänger mit Ohrhörern. Außerdem bei der Ausgabe des Radios wurden in einer kleinen Tüte ein Stück Kreide und ein Informationsfaltblatt des sogenannten Ermittlungsausschusses (!) ausgehändigt, für den Fall, dass Ordnungshüter Teilnehmer in Gewahrsam nehmen sollten. In gewisser Weise machte mich das nachdenklich aber echte Sorgen hatte ich nicht.
Ich schaltete das Radio ein und begab mich zum Kröpcke, um den herum das Radioballett stattfinden sollte. Was genau mich und die anderen Teilnehmer erwarten sollte, wusste ich nicht. Das war aber kein Problem, denn sobald ich etwas hätte tun sollen, das ich nicht will, hätte ich ja aussteigen können.
Die erste Anweisung des Moderators war, sich in den Fußgängerzonen um den Kröpcke herum zu verteilen und die anderen im Blick zu behalten. Leider fing es pünktlich zu Beginn des Radioballetts an zu regnen. Der Empfang verschlechterte sich dadurch teilweise so sehr, dass ich nichts mehr mitbekam. Nach einiger Zeit hörte es auf zu regnen und ich konnte wieder die Sendung hören.
Ihr wollt sicherlich wissen, was man tun sollte. Nun, als erstes galt es, die Fußgängerzone auf ihre Eignung zum Flanieren o.ä. zu untersuchen. Wie gut kann man auf dem Untergrund gehen?
Eine weitere "Übung" war das Abschreiten einer Schaufensterlänge. Forscher sollen untersucht haben, dass ein durchschnittlicher Passant in Fußgängerzonen acht Sekunden benötigt, um ein durchschnittliches Schaufenster zu passieren. Es sollte ein Schaufenster ausgewählt und dann aufmerksam abgeschritten werden und zwar derart, dass man die ausgestellten Waren wahrnehmen kann. Als zweiten und dritten Schritt sollte man versuchen, dasselbe Schaufenster innerhalb von fünf oder gar nur drei Sekunden abzuschreiten, wobei es bei drei Sekunden vielmehr ein Laufen war. Diese Übung gestaltete sich schwierig, weil vor "meinem" Schaufenster zu viele Leute waren.
Um das Passieren in der Einkaufszone und das übliche Verhalten zu konterkarieren, sollten wir mit dem Kreidestück ein Feld für das Kinderspiel "Himmel und Hölle" auf die Steinplatten zeichnen und dann das Spiel spielen. Leider regnete es zu sehr, so dass man das Spielfeld kaum sehen konnte und außerdem war ich so ungeschickt, beim Hüpfen das Kreidestück zu zertreten.
Spannend wurde es, als wir in die Passerelle hinunter gehen sollten, denn sie ist kein öffentlicher Raum, in dem man tun darf, was man will. Das heißt, es gibt eine Hausordnung, die z.B. unerlaubten Handel oder unerlaubtes Verweilen verbietet.
Bei einigen Aktionen kann man sich nun wirklich darüber streiten, ob sie gute Ideen sind:
1. Einen arglosen Passanten von hinten laut mit "He, Sie da!" anrufen.
2. Den Passantenfluss durch ausgestreckte Arme behindern. (Eine Passantin wollte schnell zur U-Bahn und fand das gar nicht lustig.)
3. Sich in einem Eingang eines Ladens hinlegen und dort verweilen.
4. Auf einer Treppe stehend herunterkommenden Passanten versuchen in die Augen zu schauen und rückwärts mit ihnen hinuntergehen - während man ihnen, möglichst ungerührt, weiterhin in die Augen schaut.
5. Sich einem Schaufenster nähern, den Kopf an die Scheibe anlehnen, dann ganz nah an die Scheibe treten, die ausgestellten Waren betrachten, letztlich auch die Schultern und den ganzen Körper an die Scheibe pressen und dann an die Scheibe klopfen, erst leise, dann lauter und schneller, um zu sehen, ob die Waren vielleicht reagieren. ;) Dann schnell weglaufen, als müsse man fliehen. Eine scheinbar unsinnige Aktion. Sinn ist wohl, das Verhalten eines Diebes oder einer sonstigen zwielichtigen Person zu imitieren und so die möglicherweise anwesenden Sicherheitskräfte zu irritieren. Beim Weglaufen stieß ich mit einem anderen "Radioaktivist" zusammen, wobei die Antenne meines Radios zerstört wurde; meine zehn Euro Pfand bekam ich am Ende dennoch wieder.

Gegen 16 Uhr war die Aktion dann beendet - und es hörte auf zu regnen. ;)

Die Teilnahme hat mir durchaus Spaß gemacht, auch wenn ich nicht alle "Übungen in abweichendem Verhalten" als gelungen bezeichne. Schade ist nur, dass es so nass war. Der Empfang des Senders war wirklich grottenschlecht. Es hätte noch mehr Spaß machen können.

Mir sind ein paar Leute zu Augen gekommen, die das Geschehen dokumentiert haben, ob per Kamera oder Stift. Vielleicht wurden Bilder und Aufnahmen später im Schauspielhaus gezeigt. Ich weiß es nicht, denn ich war später nicht mehr dort.

Meine Meinung zu der Aktion:
cowhen, auch ich sehe sie als Kunstform. Das war mir bereits in der Mensa klar geworden. Allerdings ist es nicht bloß Kunst, es ist politische Kunst, die gesellschaftliche Entwicklungen kritisiert und mögliche Wege aufzeigen will, sich abweichend zu verhalten, z.B. um für die individuelle Freiheit in öffentlichen Räumen einzutreten. Das gefällt mir an der Idee des Radioballetts. Auch dazu kann Kunst beitragen. Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, aus jenem Flugblatt herauszulesen, was alles mit dieser Aktion ausgesagt werden soll. Bis zum Beginn des Balletts hatte ich wenig Ahnung, was mich erwarten würde. Genau das hat aber meine Neugier verstärkt und ich denke dass dies gewollt war. Was mir nicht gefällt, ist die unweigerliche Verbindung mit der linken Szene (googelt mal...). Das schreckt vielleicht einen Großteil der Bürger ab. (Die sind es sich dann aber auch selbst schuld.) Das ist aber ein anderes Thema.
Mir gefällt auch nicht die Annahme, es gebe eine Instanz, die konformes Verhalten in öffentlichen Räumen diktiert. Es sind vielmehr alle Menschen in ihrer Gesamtheit, die das Gewöhnliche erschaffen. Eine systemtheoretische Herangehensweise wäre hier angebrachter als die Suche nach Schuldigen oder Feindbildern. Ich bin mir nicht sicher, ob die Veranstalter des Radioballetts solche suchen aber irgendwie schwingt dieser Ton mit. Allerdings kann ich mir durchaus vorstellen, dass durch Videoüberwachung und Hausordnungen das Verhalten in ehemals öffentlichen Räumen reglementiert wird. Die Freiheit wird eingeschränkt, oft unter der Begründung, die Sicherheit zu erhöhen. Ehe ich hier noch mehr schreibe, zitiere ich einfach Benjamin Franklin: "Those who would give up essential Liberty, to purchase a little temporary Safety, deserve neither Liberty nor Safety."

***

Was sind Nichtkonsumenten? Absolut gesehen ist das ein unsinniger Begriff denn jeder konsumiert. Mit Nichtkonsument sind hier Personen gemeint, die sich in bestimmten Bereichen der Innenstadt nicht als Passant oder (potentieller) Käufer zeigen. (Verkäufer oder andere lasse ich bewusst außen vor, da sie erst recht nicht unzweckmäßig anwesend sind.) Dies kann daran festgemacht werden, dass sich eine Person ohne ersichtlichen Grund dauerhaft an einem Ort aufhält oder daran, dass sie höchstwahrscheinlich nicht in der Lage ist, etwas zu kaufen. Nichtkonsumenten sind auf besondere Weise Bettler oder Personen, die Gesten des Bettelns oder Flehens ausführen - angeblich sollen solche Gesten in privatisierten Bereichen wie Bahnhöfen oder der Passerelle verboten sein.

HoloMaD, du hast Recht wenn du sagst, dass diktiertes Verhalten letztlich nicht abnorm sein kein. LIGNA wollte mit dem Radioballett abweichendes Verhalten einüben. Dass dazu eine Anleitung nötig ist, ist verständlich. Das Verhalten während des Radioballetts ist im Vergleich zum in öffentlichen und stark menschenbelebten Räumen üblichen und gewohnten Verhalten durchaus abnorm, besonders in dem Moment der Aktion. Würde ein Radioballett hingegen regelmäßig stattfinden, verlöre es unweigerlich diesen Charakter.
Wirklich abnorm wäre allerdings individuell ungewöhnliches Verhalten. Wie würden die Menschen auf solches Verhalten - gleich welcher Art - reagieren, wenn sie merken würden, dass es eben nicht organisiert, eben nicht Kunst ist? Wäre die Reaktion nicht eine ganz andere? Du hast Recht: Die Menschen sind reizüberflutet und dieses Radioballett ist nur eine weitere Attraktion, eine weitere Show. Insofern kann wirklich abnormes Verhalten niemals konzertiert sein, denn die Organisiertheit ist immer spürbar, weil sie von dem aus der Gesellschaft gewachsenen Verhalten der Masse ausbricht.
Mehr als eine Handvoll Leute haben schon teilgenommen, besonders in der Niki-De-Saint-Phalle-Promenade waren es deutlich zu viele, als "He, Sie da!" gerufen wurde und die Wirkung durch den "Sprechchor-Effekt" aufgehoben wurde. Die "Mitglieder" der Gruppe (LIGNA) saßen wahrscheinlich im Sendestudio, es sind nur drei oder vier. (Die anderen Helfer waren m.W. im Schauspielhaus. Ich weiß es nicht genau.)

cowhen, deine Idee mit dem "Kaufzwang" ist wirklich lustig. Bitte verzeih, wenn ich sie nicht gleich gewürdigt habe. :)
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paradroid

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10

Monday, June 21st 2004, 2:38pm

Sehr interessanter Bericht, migu!

Aber was ist konformes Verhalten und warum ist es schlecht? Es ist zu einem Klischee und selbst wieder zu einer Ideologie (im Marxschen Sinne) verkommen, sich selbst als "die Konformität ablehnend" zu charakterisieren. Ideologisch deshalb, weil diese Geisteshaltung, oder eher Absichtserklärung gruppenstabilisierend in einem linken Kontext wirkt.

"Wir (aus doch recht wohlhabendem Elternhaus stammende, gerade das Abitur hinter uns bringende) Punks lehnen die konforme Gesellschaft schon ganz schön ab. Ja, ha ha, so sind wir."

Warum hat Konformität ein so negatives Image?
Konformität führt leicht zu Stagnation, und zwar in vielen Bereichen: wirtschaftlich, moralisch, geistig/intellektuell... Abweichendes Verhalten ermöglicht kreative Veränderung. Soziale Abweichungen können in der Gesellschaft die Rolle der Mutation in der biologischen Evolution spielen.

Andererseits kann Nichtkonformität fatal sein. Konformes Verhalten erfüllt eine wichtige Funktion. migu hat eine systemtheoretische Überlegung gefordert; bitteschön: In einem zunehmend komplexeren System ("Gesellschaft") besteht ein anderes System ("Individuum") dadurch, dass es modellhaft Komplexität reduziert. Komplexitätsreduktion geschieht hier durch Reduktion an Wahlmöglichkeiten. Verhaltensnormen reduzieren Wahlmöglichkeiten. Konformität ist oft die einzige Option, ein komplexes System in einem (zugegeben dynamischen) Gleichgewicht zu halten. Viele "Probleme" denen wir uns gegenüber sehen, resultieren sicher nicht aus einem Mangel an anomalen Verhaltensweisen, vielmehr ist der Unwille unserer Mitmenschen, sich an die angemessenen Spielregeln zu halten die Ursache.

Eine Aktion, die zu anomalen Verhaltensweisen aufruft, hat ihren Reiz und Unterhaltungswert. Ihre Wirkung ist aber in Frage zu stellen: Besser wäre es sicher, zu konformen Verhalten aufzurufen. "Leute, die nächste Aktion ist: Wickelt ein Kaugummi aus und werft die Verpackung in den dafür vorgesehenen Behälter. Wow, das provoziert. Und jetzt rotzen wir alle synchron NICHT auf den Boden. Krass!"

Es ist sicherlich sinnvoll, seine Normen regulär zu überprüfen. Sich auf Anweisung nichtkonform zu verhalten, ist meistens dumm. Es sei denn, es regt zur Reflexion der eigenen Verhaltensweisen an.

# transmission terminated #